Wenn ein Roman so richtig packend ist und wir ihn am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen wollen, dann liegt das in gewissen Anteilen an der spannenden Handlung, aber zu einem Großteil an den guten Figuren. Wir fiebern mit dem Helden, wenn er am Abgrund steht, wir weinen mit ihm, wenn ein guter Freund stirbt, wir lieben mit ihm. Und vor allem wollen wir immer wissen, wie es nun eigentlich für ihn weiter geht. Dafür braucht es eine Figur, die überzeugt, die realistisch ist, aber gleichzeitig so interessant, dass wir für ihn oder sie unsere eigene Realität vergessen.
Aber wann genau überzeugen Figuren in einem Roman? Wie schafft man es, solche Figuren zu kreieren? Um diese Frage möchte ich mich in diesem (und vermutlich auch nächstem) Eintrag einmal genau kümmern.
Handlungen und Figuren sind immer ganz eng aufeinander bezogen und beeinflussen sich im Idealfall gegenseitig. Plotten an sich bezeichnet eigentlich nur, die Abfolge der Handlungen und die Motive der Figuren festzulegen. Die Figuren spielen dabei also eine wesentliche Rolle. Ob man beim Plotten mit ihnen beginnt oder mit der groben Handlung, ist egal. Man sollte einzig darauf achten, dass man einer Figur keine Handlung aufdrängt, die nicht zu ihr passt. Ist die Figur an sich überzeugend, kann sie jedoch sogar schlichte Handlunge beträchtlich aufwerten.
Aber wann überzeugt sie denn nun (schon wieder einen Absatz lang um den heißen Brei geschrieben, tut mir Leid ;D)? Eine Theorie dazu kommt von Jung, einem Psychologen, der das Modell der Archetypen entwickelt hat. Er stellte fest, dass in den Träumen der Menschen immer wieder die gleichen Urbilder vorkommen und nahm an, dass diese Urbilder kollektive Angst- und Wunschvorstellungen verkörpern. Protagonisten überzeugen demnach, wenn sie so handeln „dass es den Leser in seinem Unterbewusstsein an Erfahrungen erinnert, die Tausende seine Vorfahren vor ihm gemacht haben“ (Cornelia Müller: Von Narren, Helden, Weisen, S. 25). Was heißt das genau? Figuren im Roman überzeugen dann, wenn sie unterbewusst etwas in uns reizen, wenn wir ihnen emotionale Anteilnahme entgegenbringen können. Und das passiert unter anderem eben dadurch, dass sie Ängste- und Wunschvorstellungen haben, die in jedem von uns enthalten sind.
Durch das Miterleben mit den Figuren im Roman gleichen wir unsere eigenen Gefühlsdefizite aus. Es ist seltsam: wir selbst wollen keine Angst erleben, kein Schrecken, keine Nöte. Aber in Roman suchen wir sie gerade zu, wir wollen große Gefühle, während wir gleichzeitig in unserem kuscheligen Bett liegen oder im warmen Wohnzimmer sitzen und unserem realem Selbst nichts passieren kann. Deshalb nehmen wir das, was wir kriegen können: indirekte Erfahrungen, erlebt durch den Protagonisten unseres Romans. Und er darf dann alles auch im extremen erleben: extreme Liebe, extreme Angst, extreme Leidenschaft. Ein paradoxer Befund, aber umso mehr die Helden leiden, desto behaglicher fühlen sich die Leser.
Aber noch etwas muss gegeben sein, damit eine Figur überzeugt: der Leser muss sich mit ihr identifizieren können. Und hier wird es besonders knifflig. Einerseits darf die Figur dem Leser nicht zu 100 % entsprechen – das wäre zu langweilig. Sie muss schillernder, depressiver, aufregender, lebhafter, schüchternder, extremer sein. Gleichzeitig muss sie dem Leser aber auch so ähnlich sein, dass sie als Projektionsfläche für seine Leidenschaften und Träume wird, als Stellvertreter der Gefühle. Die Figur muss uns also auch ein Stück weit ähnlich sein. Sie sollte mit großen Problemen zu kämpfen haben, aber eben auch mit kleinen Alltagsdingen, die jeder von uns kennt.
Das klingt von der Theorie her recht einleuchtend, ist aber schwer umzusetzen. Wie macht ihr das, wenn ihr Figuren plant? Achtet ihr auf diese Aspekte oder plant ihr einfach wild drauf los und schaut, was sich entwickelt? Passt ihr eure Figuren im Anschluss noch an, wenn ihr merkt, dass sie nicht überzeugend sind?